Klassismuskolumne
An dieser Stelle stand ursprünglich eine Kolumne gegen Klasssismus mit dem Titel Sarrazo.
Der letzte Eintrag erfolgte im Mai 2014, dann habe ich die
Kolumne eingestellt. Sie wurde wiederbelebt, weil derzeit das lange verleugnete oder - besonders von der
linksakademischen Mittelschicht - verlegen übersehene Klassenthema
medial in Mode ist. Die alten Sarrazo-Texte sind im Anschluss an die neuen Einträge zu finden.
4. Mai 2023. Das Linksmilieu und die Polizei
Neulich wurde im Fernsehen und in den sozialen Medien ein Video
gezeigt, auf dem zu sehen ist, wie ein Polizist einen schreienden Klimakleber von
der Straße, wie soll man schreiben: entfernt. Allerdings war bei
einer der gezeigten Videovarianten die Tonspur so manipuliert, dass der
Polizist als der Bösewicht agierte, der er nach Meinung gewisser
Mittelschichtslinker ohnehin war.
Vor längerer Zeit wurde im Fernsehen und in den sozialen Medien
ein Video gezeigt, auf dem zu sehen ist, wie sich ein Polizist bei
einem Einsatz in einer Wohnung, wie soll man schreiben: benimmt. Der
Polizist herrschte die schreiende, protestierende Frau, eine
Emigrantin, in der Wohnung an: "Das ist mein Land." Damit war klar: Der
Polizist ist Rassist. Das Video war geschnitten. Durch Zufall habe ich
einmal, ein einziges Mal, eine Fassung gesehen, auf der zu sehen war,
was dem blöden Polizistensatz voranging: Die Frau schrie: "Das ist
meine Wohnung". In einer solchen Situation läßt sich die
Reaktion des Polizisten verstehen, auch wenn sie trotzdem
kritikwürdig bleibt, und es ist zu billig - das bräsig-linke
Mittelschichtmilieu hat es intellektuell gern preiswert - daraus
einen Rassismusvorwurf abzuleiten, wie es dann in etlichen Kommentaren
geschehen ist. Dass die Hausdurchsuchung richterlich angeordnet war,
spielte bei den meinungsstarken Schnellurteilern ohnehin keine Rolle.
Jedesmal, wenn ein Polizist sich und andere vor einem messerfuchtelnden
Zombi in einem Flüchtlingsheim schützt, sind pseudolinke
Klugscher zur Stelle, um ihren Protest zu verlautbaren. Als altes
(demnächst 66jähriges) Arbeiterkind kriege ich manchmal
richtig radikalbolschewistische Hassgefühle gegen die akademische
Milieulinke, die putzen lässt, in der eigenen Wohnung und auf der
Straße. In der eigenen Wohnung macht's die schwarz bezahlte
Unterschichtmutti oder eine Osteuropäerin, auf der Straße
macht's der Bulle, der Blödmann, der Büttel, der Sohn oder
der Bruder der Unterschichtmutti.
Es ist schon länger her, dass eine taz-Tante
in einem Kommentar Polizisten mit Müll verglich, so in der Art, wie in
den USA verachtungsvoll von 'white trash' gehöhnt wird. Ich habe mir
gedacht: Tsja, Dummerchen, was wäre bei einer Vergewaltigung? Du rufst
die Polizei, aber es kommt keiner, die sind alle auf dem Müll.
Die Verbullung der
Polizisten ist menschlich widerwärtig und soziologisch nicht
diskussionswürdig. Das schreibe ich als altes Arbeiterkind an
meinem Schreibtisch und das empfand ich als junges Arbeiterkind an der
Universität, wenn höhere Töchter und bessere
Söhnchen nach einer Demo 'die Bullen' verhöhnten.
Übrigens habe ich, es ist Jahrzehnte her, bei einer Antinazi-Demo
auf dem Frankfurter Römer erfahren, wie es ist, einen
Polizeiknüppel über den Schädel gezogen zu bekommen. Die
Polizeikette räumte den Römerberg, indem sie auf die hinteren
Reihen der Demonstranten eindrosch, damit die nach vorne drängten
und so die Menge vom Platz schoben. In dieser Situation werde ich
bestimmt nicht gesagt haben "Aber lieber Herr Wachtmeister, seien Sie
doch nicht so brutal". "Scheißbullen!" habe ich geschrieben,
während mir das Blut über die Stirn lief.
Polizeiliche Übergriffe müssen untersucht, dokumentiert und
bestraft werden. Polizisten müssen ausgebildet, geschult und
trainiert werden. Eskalationsvermeidung gehört zu den Tugenden
einer demokratisch legitimierten Staatsgewalt. Pauschalverbullung
und ignorante Einzelfallkritik ohne Situationskenntnis schaden
dabei nur.
23. Januar 2023. SALVE
Der Grund für diesen Eintrag ist peinlich. Die Peinlichkeit liegt
vor meiner Wohnungstür. Seit Jahren. Vor noch mehr Jahren lag die
Peinlichkeit vor der Tür zu meinem Arbeitszimmer. Es handelt sich
um einen Fußabtreter, der die lateinische Grußformel SALVE
trägt. Und zwar in der Form, in der dieses Wort in die
Eingangsschwelle von Goethes Haus am Frauenplan in Weimar eingelassen
ist. Und bei einem Besuch in diesem Haus Ende der 90er habe ich eben
den SALVE-Fußabtreter gekauft. Nun legt man sich 'sowas' als
gebildeter Mensch eigentlich nicht vor die Tür. Es sei denn, man
hat einen besonderen Grund. Mein besonderer Grund bestand darin, dass
ich erstens Goethe nicht ausstehen kann und zweitens wegen seiner
Schaffenskraft bewunderte und immer noch bewundere. Als ich Ende der
90er das SALVE von Weimar nach Neukölln brachte, konnte ich noch
nicht ahnen, dass ich Mitte der 2010er mit einer "Zeitreise in die
Goethezeit" erfolgreich sein würde. Ende der 90er legte ich den
Fußabtreter deshalb vor die Tür zu meinem Arbeitszimmer, um
jedesmal, wenn ich dieses Zimmer zum Arbeiten betrat, an den wenig
gemochten und doch hoch geschätzten 'Olympier' erinnert zu werden.
Irgendwann war ich diese Selbstermunterung, die nicht immer klar von
Selbstentmutigung zu unterscheiden war, so leid, dass ich dem
Fußabtreter die Tür wies, sozusagen. Seitdem lag er
draußen vor der Wohnungstür und tat ergeben seine schmutzige
Pflicht.
Und was hat das alles mit 'Klassismus' zu tun?
Als ich heute nach einer Kurzreise in meine Wohnung zurückkam, lag
SALVE nicht mehr vor meiner Wohnungstür, sondern vor der meiner
verstorbenen Nachbarin. Deren Wohnung wird derzeit grundsaniert. Das
macht viel Dreck. Und da die Wohnung inzwischen mit Laminat ausgelegt
ist, sollen die Drecksarbeiter (Klassismus!) den Dreck an ihren Schuhen
nicht in die frisch laminatisierte Wohnung schleppen. Also schoben sie
mein armes SALVE, das normalerweise nur das bißchen Schmutz
meiner Dichterschuhe aufzunehmen hat, vor die Tür der
Nachbarwohnung und trampelten mit ihren Drecksarbeiterschuhen
(Klassismus!) dermaßen darauf herum, dass das SALVE breit- und
der ganze Abtreter schwarzgetreten ist. So etwas macht man nicht! Auch
nicht als polnischer Proletarier (Rassismus! Klassismus!), der für
auch nicht mehr ganz so wenig Geld Berliner Wohnungen renoviert. "Sie
haben sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, den Abtreter wieder
zurückzulegen", dachte ich, als ich heute nachhause kam.
Normalerweise kann ich es, als Nachfahre von Tagelöhnern,
Bauernmägden, Näherinnen und Fabrikarbeitern, nicht
ausstehen, wenn Life-style-Linke sich über Leute hermachen, die
für sie die Drecksarbeit (kein Klassismus) erledigen. Aber der
schriftstellernde Nachfahre von Tagelöhnern, Bauernmägden,
Näherinnen und Fabrikarbeitern ist auch nur ein Mensch. Und als
solcher beharrt er darauf, dass sich Arbeiter ebenso wie andere Leute
wie Schlöcher benehmen können und sich einen Dreck (kein
Klassismus) um Anstand kümmern, wenn es bequemer ist, sich
über diesen Anstand plump, stumpf und proletenvernagelt
(Klassismus!) hinwegzusetzen.
So. Das hat gutgetan. Proletarier aller Länder vereinigt euch (kein Klassismus).
11.
November 2022. In der letzten Zeit sind bei uns eine Reihe von Büchern
erschienen, die sich mit dem Thema 'Klassismus' auseinandersetzen. Das
Wort ist ein etwas unhandlicher Hilfsbegriff, bringt den Sachverhalt
aber auf den Punkt. In Frankreich sind schon seit längerem
entsprechende Bücher (Sachbücher und Romane) 'in der Mitte
der Gesellschaft angekommen', wie es im medialen Dummsprech so
unschön heißt. Zu nennen wären etwa die inzwischen
klassischen Romane der aktuellen Literaturnobelpreisträgerin Annie
Ernaux oder Rückkehr nach Reims von Didier Eribon.
Deutschsprachige Titel will ich hier nicht
aufzählen, nur auf einen irritierenden Effekt hinweisen: Es geht
bei uns nicht ohne Elends-Charme. Die 'ganz normale' saturierte
Unterschicht (und in Wohlstandgesellschaften können auch
Unterschichten saturiert sein, wenn man Schichten nicht nur
ökonomisch, sondern soziologisch definiert) ist nicht
schockierend, nicht aufregend und mitleiderregend genug, um das
mittelschichtige Lesepublikum zu interessieren. Dabei sind diese trotz
ihrer materiellen Sicherheit (oder Halbsicherheit) strukturell
benachteiligten und oft auch in schwierigen Alltagssituationen
diskriminierten Schichten der zahlenmäßige Hauptanteil, wenn
es um 'Klassismus' geht. Aber es fehlt eben der saufende und
prügelnde Vater oder die mit Kleiderbügeln auf Kinder
einschlagende Hexengroßmutter, um zwei Beispiele aus
jüngeren Publikationen herauszugreifen. Der Effekt, den man den
Autoren und Autorinnen freilich nicht in die Schuhe schieben darf,
besteht darin, dass die Elendsteilnahme der Mittelschichtleserinnen und
-leser an diesen besonderen Fällen am großen Allgemeinproblem
vorbeifühlt. Und das ist eben ein Klassenproblem. Davon
jedoch will man, von besagten Einzelfällen abgesehen, im
Großen und Ganzen dann doch lieber nichts wissen. Ich habe
das vor Jahr und Tag ausführlicher dargestellt in meinem
2008 erschienenen Buch mit dem verunglückten, weil
vereinseitigenden Titel Das Bildungsprivileg. Warum Chancengleichheit unerwünscht ist.
Sarrazo
Kolumne gegen Klassismus |
>Klassismus< bezeichnet die Diskriminierung und Marginalisierung
aufgrund der sozialen Herkunft und der sozialen Stellung in der
Gesellschaft. Während >Rassismus< und
>Sexismus< gängige Münzen sind, von vielen - nicht
immer sauberen - Händen abgegriffen, wird die klassistische
Diskriminierung zur >sozialen Benachteiligung< verniedlicht
oder ganz geleugnet. Dagegen schreibt diese Kolumne auf
dreierlei Weise an:
Sie konstatiert Tatsachen, polemisiert gegen Meinungen und laternisiert Leute.
Das
>Laternisieren< ist kabarettistisch gemeint. Der Verfasser ist
Schriftsteller und kein Scherge, er verspritzt Tinte, kein Blut.
Der matt übersetzte Jakobinerruf "À la lanterne"
An die La Terne!
richtet
keinen Schaden an. Die Leute jedoch, die damit virtuell angeprangert
werden, machen anderen Leuten real das Leben schwer. Und zwar auf
eine Weise, der die Kategorie der >politischen Gegnerschaft<
nicht mehr angemessen ist, sondern nur noch die der sozialen
Feindschaft. In der Rubrik Offene Briefe wird
das im Brief an Thilo Sarrazin näher erklärt. Um Sarrazins
kabarettistische Begabung in aufrichtiger Feindschaft zu ehren, wurde
diese Kolumne nach ihm benannt.
Alle Einträge
Hawthorne zu Gast
Kant und Joyce zu Gast
K-Prominenz
Mindestlohn
Luther zu Gast
Justus Möser zu Gast
Landpfarrer Schlez zu Gast
Herbert Spencer zu Gast
Arbeiter und anderes Gesindel
Wieland über Laternen
Putzfrauengutschein
High Net Worth Individuals
Verfluchter Diener
Der kleine Millionär aus dem Mittelstand
"Ich mache Klassenkampf"
Knochenarbeit
Sarrazins biologischer Kampfstoff
Hawthorne zu Gast
19. Mai 2014. "Die
äußere Zurschaustellung von Ansehen und Reichtum hat etwas
so Mächtiges, Festes und fast Unwiderstehliches, dass sich allein
davon eine Daseinsberechtigung ableiten lässt oder wenigstens ein
so perfekter Schein, dass nur wenige arme und bescheidene Leute die
innere Kraft haben, sie auch nur insgeheim anzuzweifeln."
Nathaniel Hawthorne, Das Haus mit den sieben Giebeln
Kant und Joyce zu Gast
8. April 2014."Wenn
ich von einem Reichen erbte, der sein Vermögen durch Erpressung
von seinen Bauern gewonnen hat, und ich schenke dieses an
nämlichen Armen, so tue ich im bürgerlichen Verstande eine
sehr großmütige Handlung, im natürlichen aber nur eine
gemeine Schuldigkeit."
Immanuel Kant, Handschriftlicher Nachlaß
"Wenn ein Mann in seiner Jugend ein Pfund gestohlen und dieses Pfund
dazu benutzt hatte, ein riesiges Vermögen anzusammeln, wieviel
musste er dann zurückgeben, nur das Pfund, das er gestohlen hatte,
oder das Pfund zusammen mit Zins und Zinseszinsen, oder sein
gesamtes riesiges Vermögen?"
James Joye, Ein Porträt des Künstlers als junger Mann
K-Prominenz
4. Februar 2014.
Es gibt die A-Prominenz, die B-Prominenz und die C-Prominenz. Und es
gibt eine K-Prominenz: das ist die kriminelle Prominenz. Zur
kriminellen Prominenz, man könnte auch sagen: zu den prominenten
Kriminellen, gehören ein Münchener Fußballmanager, ein
Berliner Kulturmanager und Alice im Wunderland. Das Wunderland ist die
Schweiz. Die Schweiz war der Aufenthaltsort von Nazi-Gold und ist der
Aufenthaltsort von Geldern vieler Schurkenfamilien auf dieser Welt,
deren Mitglieder Staaten beherrschen und ausplündern und die ganz
unmetaphorisch und ohne jeden kabarettistischen Hintergedanken (siehe
den Vorspann zur Kolumne) handgreiflich an die Laterne gewünscht
seien!
Die Schweiz war auch lange das Wunderland für
deutsche Steuerflüchtlinge – wie das schon klingt:
Flüchtlinge! Als würden die armen Leutchen Leib und Leben
riskierend in Booten übers Mittelmeer schippern. Dabei schaffen
sie nur ihre Kohle über die Alpen. Seit die deutschen
Finanzbehörden Steuer-CDs ankaufen, und seit dieser abgekanzelte
SPD Kandidat die Kavallarie über die Berge schicken wollte,
seitdem also überdenken die Schweizer Behörden ihre
Steuerhinterzieher anlockende Finanzpolitik, und die Banken denken
hinterher und fürchten inzwischen, sich die Finger an der
schwarzen Kohle schmutzig zu machen. Und immer, wenn eine CD angekauft
wird, laufen prominente und nichtprominente Steuerkriminelle mit einem
Anwalt zur Linken und einem Steuerberater zur Rechten zum Finanzamt und
zeigen sich selber an. Dann zahlen sie die Steuern, die sie hätten
zahlen müssen, einfach nach, zuzüglich Zinsen und ein kleines
Aufgeld zur Beschwichtigung. Alles aber nur, wenn die
Hinterziehungsverbrechen nicht verjährt sind wie zum großen
Teil bei der Alice. Sie hat drei Jahrzehnte lang
Steuern hinterzogen, zwei Jahrzehnte davon sind verjährt, ein
Jahrzehnt muss sie nachzahlen.
Alice Schwarzer ist eine historische
Persönlichkeit. Sie hat sich als Ratetante Anfang der 90er in
einem Aufguss des „Heiteren Beruferatens“ und schon seit
den 70ern in verschiedenen Aufgüssen des Feminismus verdient und
Verdienst gemacht. Seit 96 hat sie für ihre Verdienste
das Bundesverdienstkreuz, seit den 80ern für ihren
Verdienst ein Schwarzgeldkonto in der Schweiz. Das war aber
ein Fehler. So drückt es die Journalistin, die andere gern mit
großen Worten geißelt, klein und niedlich aus. Wie ein
ertapptes böses Mädchen macht sie einen Knicks und erwartet,
dass die Öffentlichkeit über die kriminelle Energie
hinwegsieht, mit der sie drei Jahrzehnte lang den Fiskus und mit ihm
die Allgemeinheit betrogen hat. An die La Terne? In diesem unappetitlichen Fall sind genug erste Steine geworfen worden – ich werfe das Handtuch.
Mindestlohn
27.10.2013. Vor einiger Zeit habe ich einen tantenjournalistischen Zeitungsbeitrag zum
Thema Mindestlohn gelesen. Statt ‚Tantenjournalismus’
könnte man auch TantInnenjournalismus sagen, um parodistisch
korrekt zu plakatieren, dass Männern die Textsorte keineswegs
fremd ist. Das Interessante an dieser Art Journalismus ist die
Treuherziggkeit, mit der Meinungen mit Argumenten verwechselt werden
und persönliche Sichtweisen mit objektiven Sachlagen. Auf diese
Weise werden Dinge ausgesprochen, auch im Radio gibt es
Tantenjournalismus, oder Sätze hingeschrieben, die unschuldig
ausplaudern was sonst ‚diskursiv’ – früher sagte
man: ‚ideologisch’ – überdeckt wird.
Beim erwähnten tantenjournalistischen Beitrag zum Mindestlohn ging es zum Beispiel um Würde und um Werte.
Die Würde
der Arbeit hänge nicht davon ab, ob jemand davon leben könne,
Arbeit sei an sich würdig. An dieser Stelle muss ich
persönlich werden (für ‚persönliche
Beleidigungen’ bin ich jedoch nicht in Stimmung, obwohl
sie zum Sarrazo-Format
gehören). Ich habe als junger Mensch Arbeiten verrichtet, zum
Glück immer nur vorübergehend in Ferienjobs, die den
Arbeitenden normalbrutal ausbeuteten und den Menschen zum
leiblichen Anhängsel der Maschine machten. Ich weiß nicht,
ob die Journalistentante (matter Versuch, die formatgerechte
‚persönliche Beleidigung’ doch noch hinzukriegen) an
die Näherinnen in Bangladesch dachte; ich weiß aber, dass es
nicht nur (und was heißt hier überhaupt ‚nur’)
im fernen Bangladesch Jobs gibt, die eigentlich überhaupt
nicht gemacht werden sollten, weder für 2 Euro noch für
8 Euro 50 noch für 50 Euro 80, sondern überhaupt nicht, denn
sie entwürdigen, erniedrigen und zerstören den Menschen. Wenn
die Leute in Europa keinen Zucker essen könnten, weil es auf
Rohrplantagen in Brasilien keine Sklaven gäbe, dann sollen die
Menschen in Europa keinen Rohrzucker essen, denn unter keinen
Umständen (unter keinen!), darf es in Brasilien Sklaven
geben. Dieses Beispiel stammt aus dem 18. Jahrhundert (und aus
Voltaires Candide). Wenn die
Menschen in Europa keine billigen Klamotten (oder teure iPhones) haben
könnten, wenn es in asiatischen sweatshops keine Näherinnen
(oder in asiatischen Montagehallen keine Bandarbeiter) gäbe, dann
sollen die Menschen in Europa keine Billigklamotten und TeuerPhones
kaufen, denn es darf in sweatshops und Montagehallen keine
Arbeiterinnen und Arbeiter geben, die verbrennen oder vom Dach
springen.
Was den Wert der
Arbeit angeht, meint die werte Medienarbeiterin in ihrer
Mindestlohnkolumne, dass es Leute gebe, die keinen
„Gegenwert“ für 8 Euro 50 pro Arbeitsstunde erzeugen.
Ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis so eine
Mindestlohnkolumne fertig geschrieben ist und ob der durch sie erzeugte
„Gegenwert“ dem Honorar (das übrigens so hoch auch
wieder nicht gewesen sein wird) entspricht und wie diese
Gegenwertigkeit gegenwärtig zu messen wäre – ich muss
kalauern, sonst halte ich die geistige Fallhöhe nicht aus (zweiter
Beleidigungsversuch). Im Wirtschaftsteil der Zeitungen wird
normalerweise behauptet, das Verhältnis von Angebot und Nachfrage
bestimme den Preis einer Ware. Das trifft zwar auch nicht immer zu, ist
aber doch realitätsnäher als die Wert-Gegenwert
Metaphysik der Kolumnistin. Vielleicht hat sie ja früher mal Marx
gelesen oder etwas von dessen 'Arbeitswertlehre' gehört - und
nicht verstanden (was, leider, keine Beleidigung ist, denn Marx
selbst ging es damit kaum anders.) Jedenfalls: Solange sich Leute
'finden', will sagen: gezwungen sehen, bestimmte
Arbeiten zu machen (unter allen Umständen!), zum Beispiel im
Hochsommer auf den Knien und mit Atemschutzmaske Straßenasphalt
glattstreichen, bleibt der Preis für diese Arbeiten
niedrig. Das ist einer der Gründe, warum der Mindestlohn
wichtig ist. Ein flächendeckender
gesetzlicher Mindestlohn verteuert die Arbeit im unteren
Lohnsegment, auch diejenige, die über den 8 Euro 50 liegt –
und das soll so sein, das ist geradezu das Ziel.
Werden dabei Jobs ‚vernichtet', als wären
die Jobs Juden im ‚Dritten Reich’, dann soll es diese Jobs
eben nicht mehr geben, dann sollen die Leute schwarz arbeiten oder den
Arbeits- und Sozialämtern die Türen einlaufen. Im
Übrigen 'vernichtet' auch das Abschalten von
Atomkraftwerken Jobs, und die Befreiung von Vernichtungslagern hat
ebenfalls Jobs 'vernichtet': beim ‚Wachschutz’, in der
Lagerverwaltung und bei der Verarbeitung des Goldes, das man den
ermordeten Juden aus den Zähnen brach. Nein – ich ziehe
keine Vergleiche zwischen Billiglöhnen, Atomanlagen und
Auschwitz. Richtig lesen oder wegklicken! Ich ekle mich bloß vor
dieser Vernichtungssprache, wenn es um Jobs geht – bis
‚zur Vergasung’ (hoppla) gedankenlos wird in unserem sonst
so gedenktrainierten Deutschland von der ‚Vernichtung’
von Jobs gesprochen, nicht nur im Tantenjournalismus. Was aber dessen
Würde betrifft – ach (dritter Beleidigungsversuch), es hat
ja keinen Wert... An die - LED-Leuchte!
Martin Luther zu Gast
19.7.2013. "Im
eusserlichen, weltlichen leben da soll die ungleichheit bleyben. Wie
denn die Stende ungleych sein. Ein Baur füret ein ander leben und
Stand denn ein Burger. Ein Fürst ein andern Stand denn ein
Edelmann. Da ist alles ungleych unnd soll ungleych bleiben. [...] Das
will Gott also haben, der hat die Stend also geordnet und geschaffen."
Justus Möser zu Gast
16.7.2013. Aus den 1774 bis 1786 erschienenen Patriotischen Phantasien des Osnabrücker Staatsmannes und Publizisten Justus Möser:
"Man teile alle Armen in drei Klassen:
In die erste Klasse sollen diejenigen kommen, welche durch
Unglücksfälle oder Gebrechlichkeit arm sind und einige
Schonung verdienen.
In die andere [die zweite] alle, welche eben keine Schonung verdienen
und sich nur damit entschuldigen, dass sie keine Gelegenheit zu
arbeiten haben, um ihr Brot zu gewinnen.
In die dritte alle mutwilligen Bettler, die durch ihr eigen Verschulden
arm sind und gar nicht arbeiten wollen, ohnerachtet sie Gelegenheit,
Geschicklichkeit und Kräfte dazu haben.
Die Einrichtung dieser Klassen werde mit Zuziehung der Pfarrer und mit
der genauesten Untersuchung gemachet; sodann aber die erste Klasse
durch öffentliche Vorsorge zu Hause versorgt, die andre mit Arbeit
versehen und die dritte in dem angelegten Werkhause dazu gezwungen."
Landpfarrer Schlez zu Gast
30.5.2013. Aus den 1788 erschienenen Landwirtschaftspredigten des Thüringer Pfarrers Johann Ferdinand Schlez ein Dankgebet für die Herrschaft:
"Durch dich, Gott, bin ich, was ich bin,
Und es ist deine Gabe,
Dass ich, als Herr, so viel Gewinn
Von meinen Brüdern habe."
Herbert Spencer zu Gast
29.4.2013. "Die
Armut der Unfähigen, die Bedrängnis, welche die
Unvernünftigen befällt, der Hunger der Faulenzer und das, was
den Schwachen von den Starken angetan wird, was so viele in Untiefen
und im Elend zurück lässt, sind die Fügungen einer
großen, umsichtigen Güte."
Herbert Spencer, Zeitgenosse Darwins, Sozioideologe, Erfinder der sozialdarwinistischen Zwecklüge vom "survival of the fittest".
Arbeiter und anderes Gesindel
28.1.2013. Neger!
Neger, Neger, Neger! War das jetzt rassistisch genug? Im Moment sind
mir ja Leute, die aufrichtig negern, sympathischer als bigotte
Korrektsprecher. In unserer Epoche der Übersymbolisierung wird auf
Worte mehr Wert gelegt als auf Taten. Man darf nicht Neger sagen, sie
aber billig bezahlt in Restaurantküchen stellen. Werfen Sie
beim nächsten Essengehen mal einen Blick durch die
Schwingtür.
Jetzt machen wir ein Sprachexperiment.
Ein Rezensent, der Name tut nichts zur Sache, schrieb über das
neue Buch, der Titel tut nichts zur Sache, einer Romanschriftstellerin,
der Name tut nichts zur Sache, einen Satz, der eine ganze Menge zur
Sache tut. Der Satz lautete:
„Sie schreibt über Neger, Säufer, Versager, Dorfgesindel.“
Unmöglich? Freilich, wegen des Negers.
„Sie schreibt über Schwarze, Säufer, Versager, Dorfgesindel.“
Immer noch unmöglich?
Und wie wär’s damit:
„Sie schreibt über Frauen, Säufer, Versager, Dorfgesindel.“
Naja, naja, ist das nicht ein bißchen sexistisch oder so, Frauen
in einem Atemzug mit Säufern, Versagern, Dorfgesindel?
Der Satz, der eine Menge zur Sache tut, stand aber so in der Zeitung:
„Sie schreibt über Bauern, Arbeiter, Säufer, Versager, Dorf- gesindel.“
Wenn das oben ein sexistischer Missgriff ist, und es ist
ein sexistischer Missgriff, dann ist dies hier ein klassistischer
Missgriff: Bauern und Arbeiter, Säufer und Versager, alles eins.
Das plumpe Negern fällt jedem ins Auge, der subkutane Klassismus
fällt keinem auf.
Wieland über Laternen
17.1.2013. "Hätte es bei mir
gestanden, so würde gewiss weder [ein] Schuldiger noch Unschuldiger ohne
Urteil und Recht an Laternen-Pfählen aufgehangen, keines Menschen
Haus geplündert, keines braven Edelmanns, ja sogar keines
Bauernschinders Schloss oder Burg angezündet [...] Aber es ist mir
demungeachtet schlechterdings unmöglich, um aller jener wirklichen
und erdichteten Greuel
willen, deren sich der Pariser Pöbel, die Damen von den Hallen und
dem Maubertsplatz, und hier und da einige zur Ungeduld gereizte
Bürger und Bauern im Verlauf der letzten zehn Monate schuldig
gemacht haben mögen, weniger überzeugt zu sein, dass die
Revolution ein notwendiges und heilsames Werk, oder vielmehr das
einzige Mittel war, die Nation zu retten, wiederherzustellen und aller
Wahrscheinlichkeit nach glücklicher zu machen, als es noch keine
andere jemals gewesen ist."
"Man sieht, dass ich nicht für die Laternenpfähle
bin, ungeachtet sie ein demokratisches und (wie nicht zu leugnen ist)
sehr kräftiges Beförderungsmittel der Revolution gewesen
sind, und in dieser Rücksicht einigen Respekt verdienen. Gestehen
es doch die eifrigsten Widersacher der neuen Konstitution selbst ein,
dass nichts als die Furcht vor dieser kompendiarischen Art, die Feinde
des Volks außer Aktivität zu setzen, sie dahinbringen
könne, die ihrige in Schranken zu halten. Bei allem dem wird wohl
niemand zu leugnen begehren, dass dergleichen außerordentliche
Subsidia Iuris, auch in den Fällen, wo sie von großem Nutzen
sind, unter die Anomalien
gehören, welchen vorzubauen und sie in der Zukunft unmöglich
zu machen, keine der geringsten Wohltaten einer weisen Gesetzgebung
ist."
Aus Unparteiische Betrachtungen über die dermalige Staats-Revolution in Frankreich, erschienen im Neuen Teutschen Merkur, Mai und Juni 1790. Die Hervorhebungen stammen von Wieland.
Putzfrauengutschein
28.11.2012.
Es gibt Leute, die haben Putzfrauen, und es gibt Leute, die sind
welche. Diejenigen, die Putzfrauen haben, sollen vom Staat Gutscheine
bekommen, damit sie diejenigen, die welche sind, nicht allein bezahlen
müssen. So eine arme Mittelstandsmama traut sich ja nach ihrer
staatsfinanzierten Elternauszeit nicht zurück in den Beruf, wenn
die Putze zuhause nicht auch ein bißchen staatsmitfinanziert
wird. Die Putze, die trotz der Unerwünschtheit unterklassiger
Fortpflanzung ein Kind auf die Welt bringt, erhält den Minimalsatz
Elterngeld, während die Akademikermama, bei der die Putzmama
sauber macht, mit bis zum sechsfachen für die Fortpflanzung ihrer
Elitegene honoriert wird. Wenn die Akademikermama dann wieder arbeiten
geht, soll sie nach einem neuerdings kursierenden Vorschlag zur
Abmilderung dieser ungeheuren Belastung einen Gutschein zum
Putzenlassen erhalten. Ob die Putzmama auch einen Putzgutschein
für die Putzfrau zu Hause erhält, wenn sie selbst wieder
arbeiten und zur Akademikermama Dreckwegmachen geht?
High Net Worth Individuals
15.8.2012. Die
HNWIs sind die globale Schicht der Superreichen, die etwa 100.000 Leute
umfasst. Sie besitzen schätzungsweise ein Drittel des weltweiten
Geldvermögens. Dollarmillionäre (berechnet ohne den Wert
selbstgenutzter Immobilien) gibt es weltweit rund elf Millionen. In
Deutschland gibt es 829.000 Millionäre (wiederum ohne
Einberechnung selbstgenutzter Immobilien). Das gesamte
Geldvermögen der Deutschen wurde für 2010 auf knapp
fünf Billionen Euro geschätzt.* Das Bundesamt für
Statistik beziffert das steuerpflichtige Nachlassvermögen in
Deutschland für 2010 auf 30,6 Milliarden Euro. 2007 verfügten
0,001 Prozent der deutschen Haushalte über 419 Milliarden Euro.**
Geld macht nicht glücklich***, stinkt aber auch nicht.****
*Diese Angaben sind verschiedenen Quellen entnommen, die Nicola Liebert in ihrem Artikel "Fataler Reichtum" in Le Monde diplomatique
vom August 2012 anführt. Es muss hinzugefügt werden, dass die
Autorin selbst schlecht in Mathe ist. Sie behauptet, 100.000
Menschen würden 0,001 Prozent der Weltbevölkerung entsprechen.
**Diese Angaben sind Quellen der Berliner Zeitung vom 1. Juni 2012 entnommen.
***Diese Angabe ist dem Volksmund entnommen.
****Diese Angabe ist entnommen dem Kapitel über Vespasian in Suetons Leben der Caesaren, auch eine Art HNWIs
Verfluchter Diener
31.7.2012. Eine Passage aus Xavier de Maistres Reise um mein Zimmer,
erschienen 1795. Der Ich-Erzähler ist ärgerlich über
seinen Diener, weil dieser den Auftrag, eine Bürste zu kaufen,
immer noch nicht erledigt hat. Brummig streckt er die Füße
vor, um sich die Schuhe mit einem Lappen putzen zu lassen.
„>Wie!<, dachte
ich bei mir, >es gibt also Menschen, die anderer Leute Schuhe
für Geld putzen?< Dieses Wort Geld war ein Lichtstrahl, der
mich erleuchtete. Plötzlich erinnerte ich mich, dass ich meinem
Diener schon lange keins gegeben hatte. >Joanetti<, sagte ich,
meinen Fuß zurückziehend zu ihm, >haben Sie Geld?< Bei
dieser Frage erschien auf seinen Lippen ein gutmütiges
Lächeln. >Nein Monsieur; seit acht Tagen habe ich keinen Sou;
alles, was ich besaß, habe ich für Ihre kleinen
Einkäufe verbraucht.< - >Und die Bürste? Sicherlich ist
es deswegen?< Er lächelte noch immer. Er hätte zu seinem
Herrn sagen können: >Nein, ich bin kein Blödian, kein
Dummkopf, wie Sie die Grausamkeit gehabt haben, Ihren treuen Diener zu
nennen. Zahlen Sie mir 23 Livre, 10 Sou, 4 Denier, die Sie mir
schulden, und ich werde Ihnen Ihre Bürste kaufen.< Lieber
ließ er sich ungerecht behandeln, als seinen Herrn in die Lage zu
versetzen, ihn wegen seiner Heftigkeit zu beschämen. Der Himmel
segne ihn!“
Verfluchter Diener! Blödian! Dummkopf!
Der Herr an die Laterne!
Der kleine Millionär aus dem Mittelstand
12.9.2011 Ekkehard Wenger ist
Professor für Betriebswirtschaft in Würzburg. Ist ja nicht so
schlimm. Aber was schreibt der nur für ein Zeug in der Zeit:
"Die Eigentümer von Sach- und Finanzvermögen werden seit
einem Jahrzehnt ausgeplündert von Mietern, Arbeitnehmern
(einschließlich angestellten Investmentbankern und
Konzernvorständen) und vom Staat."
"Vermögen verpflichtet nicht dazu, sich dauerhaft ausbeuten zu lassen."
Das ist nicht mehr hemdsärmelig, sondern gottserbärmlich. Der
Text, falls man diesen gedruckten Schaum vorm Mund so nennen kann, ist
vor dem Hintergrund einer drohenden Wiedereinführung der
Vermögenssteuer nach der nächsten Bundestagswahl zu
lesen. Wenger mag aber die Vermögenssteuer nicht.
Vielleicht hat er mit seiner Abneigung sogar recht. Aber wenn er mit
seiner Abneigung recht hat, dann nicht deshalb, weil bei uns die
Reichen von den Armen ausgebeutet werden, wie Wenger schreibt. Und auch
selber glaubt. Bei ihm kommt die Ideologie so tief aus dem Herzen, das
die Ideen unterwegs verloren gegangen sind und nur eine verdrehte
Idiotenlogik übrig geblieben ist.
Mit der Vermögenssteuer hat er vielleicht trotzdem recht. Das
müssen die Fachleute ausrechnen. Es kann ja sein, und bei der
Abschaffung der Vermögenssteuer war das ein Argument, dass die
Ermittlung des zu besteuernden Vermögens die Finanzbehörden
mehr kostet, als die Steuer einbringt. Und es kann auch sein, dass eine
gerechte Ermittlung nur schwer zu erreichen ist. An beidem sind die
Vermögenden mitschuld. Trotzdem kann sich ein Rechtsstaat
darüber nicht hinwegsetzen.
Die Vermögenssteuer klingt gut und kommt an bei linken Leuten.
Aber wenn sie sachlich nicht zielführend und nicht gerecht
umzusetzen ist, gibt es andere und vielleicht auch bessere
Instrumente: Die Erhöhung des Spitzensteuersatzes, die Fortsetzung
der Progression über die derzeitige Grenze hinaus, die
Rücknahme der Erbschaftssteuerreform, die Abschaffung von
Subventionen und Steuerprivilegien.
Es gäbe jedenfalls Möglichkeiten, das Gesamtsteueraufkommen
anzuheben, ohne die unteren und mittleren Einkommen weiter zu belasten.
Und gespart werden muss auch. Professor Wenger meint, Fussballspieler
verdienen zu viel. Kann schon sein. Alle möglichen Leute verdienen
zu viel, womöglich auch Professoren für Betriebswirtschaft in
der schönen Residenzstadt Würzburg. Das sind jedoch
Kategorien spezieller Ressentiments, nicht gesamtfiskalischer Rechnung.
Das gilt auch für Wengers Versuch, die Ministerpensionen (deren
Berechnungsart wirklich reformiert werden müsste)
auszuspielen gegen "das gesamte Vermögen eines kleinen
Millionärs aus dem Mittelstand".
Das ist eine ganz neue Schicht und eine ganz neue Sicht: Der kleine
Millionär aus dem Mittelstand. Die Ausbeuter unseres
Wirtschaftssystems, all die schwatzhaften Friseusen und maulfaulen
Busfahrer, die schwarz nebenher verdienenden Fensterputzer
und immer das selbe Öl verwendenden Bulettenbrater, die
tagtäglich im Licht der Öffentlichkeit sitzenden
Kassiererinnen und die Nacht für Nacht im Verborgenen
herumstehenden Lagerarbeiter, die Niedriglöhner der Republik
und die Reinemachefrauen in Würzburg sollten ihre Privilegien in
Frage stellen und sich endlich solidarisch Gedanken über die
neue soziale Frage des "kleinen Millionärs aus dem Mittelstand"
machen.
Ach Herr Wenger, sowas verdient nicht mal ein kabarettistisches
An die La Terne!
"Ich mache Klassenkampf"
So steht es auf Buttons,
die im seligen Frankreich die Leute bei Protesten gegen die
Regierungspolitik auf der Brust tragen: „Je lutte des
classes“ – „Ich mache Klassenkampf“. Oh, La
France, du Vaterland der Revolution, du Mutter der Revolte.
Klassenkampf! Bei
uns schämt man sich für so was. Sogar die Kommunisten
schämen sich für so was bei uns. Wir sind das Land der
Waldhüter und Klimaschützer, das Land der amöbenhaften
Mitte, das Land der Spießergrünen mit Eigenheim, Carport und
unstillbarer Sehnsucht nach dem Hybridauto. Das Land, in dem die mit
der schlechtesten persönlichen Ökobilanz das beste politische
Umweltgewissen haben. Das Land, in dem eine Partei der Gutverdiener die
sentimentalen Ideale und bigotten Utopien eines Drittels der
Bevölkerung zu verwalten und zu verwahlen versteht. Das
lässt die Anbieter politischer Konkurrenzprodukte aus der roten
Haut fahren, gelb vor Neid werden oder schwarz vor Ärger.
Und über Land und Leuten liegt der porentief unreine
graugrüne Schleier betagter
Hoffnungen und frischen Selbstbetrugs.
Knochenarbeit
Einer Studie der Uni Duisburg-Essen zufolge verdienen etwa zwei
Millionen Beschäftigte weniger als 6 Euro brutto die Stunde. Rund
sechseinhalb Millionen Beschäftigte gelten als
>Niedriglöhner< und verdienen im Westen weniger als 9 Euro
50, im Osten weniger als 6 Euro 87.
Anfang September ist im Hanser Verlag ein Buch unter
dem Titel Knochenarbeit erschienen. Darin berichtet ein
Enddreißiger mit Soziologiestudium, Akademikergattin und
familiärem Mittelschichthintergrund von seinen Erfahrungen in
einer Backfabrik, in der er ein Jahr für 8 Euro 10 die Stunde
geschuftet hat.
Das Buch beschreibt ein wenig die Arbeitssituation
und liefert ein paar Porträts ehemaliger Kolleginnen und Kollegen.
Ansonsten schwadroniert der Autor, bringt viel durcheinander und wenig
auf die Reihe. Er kann Churchill und Shaw nicht auseinander halten, und
den Zusammenhang zwischen Arbeitsteilung und Ausbeutung nicht
begreifen. Er schreibt Max Weber die Wendung vom >eisernen
Gehäuse der Moderne< zu, aber Max Weber hat vom
„stählernen Gehäuse der Hörigkeit“
gesprochen und dabei nicht >die Moderne< charakterisiert, sondern
die Bürokratie. Wenn das Buch auf soziologische Theorien zu
sprechen kommt, verteht man, dass sein Autor aus seinem
Soziologiestudium nichts machen konnte. Er hat im Seminar nicht
aufgepasst. Überhaupt meint er zu schnell und denkt zu langsam.
Doch kommt es darauf nicht. Dies ist keine
Auseinandersetzung mit der Person des Autors, deshalb bleibt seine Name
unerwähnt. Dies ist auch keine Rezension des Buches, denn das
Werklein ist weder als Sozialreportage noch als Sozialanalyse noch als
Sozialtheorie satisfaktionsfähig.
Interessant ist es als Symptom. Es ist die
Dummerchenvariante eines Weltbildes, das sich als >vitalistisch<
bezeichnen ließe und einher geht mit einer Anthropologisierung
kultureller Sachverhalte und einer biologistischen
Gesellschaftsauffassung. Wie ein etwas netterer, aber viel
blöderer Sarrazin >philosophiert< der Autor vom Kampf ums
Dasein, den die Starken und Klugen gewinnen und die Schwachen und
Dummen verlieren. Manchmal siedelt der Autor diesen Daseinskampf im
Dschungel an, manchmal auf dem Monopoly-Brett:
„Der Löwe teilt seine Beute nicht mit den Feldmäusen.
Der fortgeschrittene Kapitalismus gleicht einem Dschungel.“
„Es gibt begabte und unbegabte Menschen. Die Begabten wohnen
irgendwann in der Parkstraße oder gar in der Schloßallee,
die Unbegabten müssen sehen, dass sie ihre Miete für das Loch
in der Turmstraße zusammenkratzen können.“
Die vitalistische Schlussfolgerung:
„Man muss das Wilde in den Menschen reizen. Diese Zeiten sind
nichts für komplett Domestizierte. Wir brauchen widerständige
und stolze Leute, die nicht alles schlucken.“
„Jeder Mensch kann sich erheben, wenn er will.“
Also sollen die aus der Turmstraße wild, stolz und widerständig in die Schloßallee stürmen?
Natürlich nicht. Die Feldmäuse dürfen die Löwen
nicht an ihrer Freiheit hindern. Die Cleveren sollen von den Dummen
nicht beim Bereichern gestört werden.
„Der Fleißige hat Erfolg, der Faule bleibt am Boden.“
„Die Cleveren sind oben, die Naiven sind unten. Daran ist nichts auszusetzen.“
Der eine dreht große Räder:
„Die großen
Unternehmerpersönlichkeiten haben alle klein angefangen.“
Der andere backt kleine Brötchen:
„Die einfachen Leute
streben danach, möglichst nichts zu tun. Sie wollen sich
entspannen und konsumieren. Der Traum des kleinen Mannes ist die
Hängematte mit Zimmerservice.“
Die Schlußfolgerung:
„Man nennt es soziale Ungleichheit. Es
scheint mir eine anthropologische Konstante zu sein, wie der
Geschlechtsunterschied, wie die Tatsache des Krieges, wie Krankheit und
Tod. Diese Ungleichheit scheint zum Leben zu gehören. Sie ist
unverrückbar wie ein Berg. Sie gehört zur Topographie des
Daseins.“
An die La Terne? Nein, in die La Trine!
Sarrazins biologischer Kampfstoff
In den sich selbst für liberal bis links haltenden Berliner
akademischen Mittelschichtmileus darf man nichts gegen die Türken
in Kreuzberg sagen, aber alles gegen die Prols in Neukölln.
Entsprechend verteilt ist die Empörungsenergie bei
Verstößen gegen die politische Korrektheit. An den
Reaktionen auf Thilo Sarrazins Buch lässt sich
das beobachten. Die berufsmäßig dazu
verpflichteten Beschäftigten des Integrationsgewerbes nudeln
routiniert ihre Proteste ab gegen antimoslemische, rassistische,
fremdenfeindliche Äußerungen, und jeder, der zu den Guten
gehören will, schüttelt den Kopf über den Sarrazinenritt
gegen die Migranten. Dass dieser Ritt auch die deutschen Unterschichten
angreift, ist protest- rhetorisch kaum der Rede wert.
Die Äußerungen Sarrazins sind zwar an der
Oberfläche rassistisch, in dem, was ihnen als ideengebend zugrunde
liegt, haben sie aber weniger mit Rassismus als mit Klassismus zu tun,
genauer gesagt mit einer von einem biologistischen Menschenbild
herrührenden Verachtung der Unterschicht. Man hat Sarrazin noch
nie ein Wort gegen schwarze Diplomaten, schokoladige
US-Präsidenten oder türkische Unternehmer sagen hören.
Seine Angriffe werden stets von oben nach unten geführt. Sie laden
den Menschen niederer Klasse das, was ihnen angetan und vorenthalten
wird, höhnisch als selbst zu verantwortende Schuld auf.
Sarrazins Haltung erinnert an jene, mit der im 19.
Jahrhundert die Besitzbürger die Fabrikarbeiter als
>gefährliche Klasse< stigmatisierten. Man kann das in den
Texten, auch in den Romanen dieser Epoche nachlesen: Die Arbeiter
müssen sechs Tage die Woche mindestens zwölf Stunden in die
Fabriken und Bergwerke, sonst versaufen sie ihren Lohn, schlagen ihre
Frauen, misshandeln ihre Kinder. Die Kinder wiederum sollen nicht in
die Schule, sondern ebenfalls sechs Tage die Woche zehn Stunden
arbeiten, sonst verlottern sie, lernen keine Disziplin und
belästigen anständige Leute mit gassenjungenhaften
Unverschämtheiten und Bettelei.
An solche Vorstellungen erinnern die sozialen und
moralischen Begründungen für das strafbewehrte
Erziehungsprogramm, mit dem Sarrazin die heutigen Unterschichten wenn
schon nicht zur Vernunft, so wenigstens zur Räson des Gehorsams
bringen will. So lassen sich soziale Reformbemühungen von
vornherein durch pseudobiologische Einwände desavouieren und
soziale Ungleichheiten durch natürliche Ungleichheiten
rechtfertigen. Gesellschaftliche Probleme werden biologisiert.
Entsprechend besteht die Lösung dieser
Probleme nicht in der sozialen, sondern in der biologischen Abschaffung
der Unterschicht. Sarrazin verziert diese Position aus
provokationsästhetischen Gründen mit Übertreibungen,
aber die Schnittmenge dieser Übertreibungen mit der sogenannten
Realpolitik ist bei näherem Hinsehen größer, als es bei
blindmachender Reflexempörung erscheint. Während der Debatten
um die einkommensabhängige Staffelung des Elterngeldes wurde auch
in akademischen Milieus, die sich für vernünftig und
gemäßigt halten, die Überzeugung vertreten, die Elite
würde aussterben, wenn ihr der Staat das Kinderaufziehen nicht
finanziell erleichtere. Als käme die Elite nicht durch soziale
Rekrutierung, sondern durch natürliche Fortpflanzung zustande.
Einst rechtfertigte der Adel seine Privilegien mit
ererbter Überlegenheit – nicht nur gegen die Bauern, auch
gegen die Bürger. Das Bürgertum lehnte sich gegen diese
angeblich natürliche Ordnung auf und warf sie in Revolutionen
über den Haufen. Inzwischen hat die Genetik zu einer Renaissance
des Erbgedankens führt, und in den ideologischen
Verteidigungshaushalt der bürgerlichen Schichten werden auf einmal
aristokratische Argumentationsposten eingestellt. An die Stelle der
sozialen Überlegenheit einer Elite, die sich immer neu behaupten,
rechtfertigen und für fremde Eindringlinge öffnen muss, tritt
die natürliche Überlegenheit bürgerlicher Familien, die
wie einst die Familien des Adels jede Infragestellung ihrer Privilegien
für einen Verstoß gegen die Erbgesetze der Natur halten. Der
fanatischste Verkünder dieser neuen deutschen Erbideologie ist
Thilo Sarrazin. An die La Terne!
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